Branchen­befragung

Es ist Zeit, zu handeln

Eine Befragung von über 1.500 Mitarbeitenden im SPNV in NRW gibt wertvolle Einblicke in die Herausforderungen, mit denen sie täglich konfrontiert sind. Studienleiter Rainer Oberkötter erklärt, warum nicht nur die Ergebnisse beachtenswert sind. Ein Gastbeitrag von Rainer Oberkötter.

Wir alle sind uns einig: Wollen wir die für 2030 gesetzten Klimaziele erreichen, muss sich unsere Mobilität drastisch verändern, und diese Veränderung gelingt nur mit einem starken Angebot im Schienenpersonennahverkehr (SPNV). Die Krux dabei? Auf dem SPNV lasten schon jetzt enorme Herausforderungen. Der Personalmangel ist allgegenwärtig. Belegschaften werden älter, tausende Mitarbeitende gehen bald in Rente, die Krankenstände schnellen in die Höhe. Im SPNV kommt als besondere Herausforderung die marode Infrastruktur mit Baustellen, massiven Störungen durch Umleitungen, längere Reisezeiten, Verspätungen und sogar Verbindungsausfälle hinzu.

Darunter leiden nicht nur die Fahrgäste, sondern auch die Mitarbeitenden im SPNV, die ohnehin schon einer hohen berufsbedingten Belastung durch Schichtdienste, die hohe Verantwortung für die Sicherheit der Fahrgäste und den Zeitdruck eines möglichst pünktlichen Fahrplans ausgesetzt sind. Akute Krisen, Kriege und Inflation, der Klimawandel und ganz neue, branchenspezifische Herausforderungen wie das Deutschlandticket sind weitere mögliche Überlastungsfaktoren. Deshalb war es wichtig, sich die Situation der Mitarbeitenden einmal genauer anzuschauen und sie direkt zu fragen: Was belastet dich am meisten? Und wie kannst du entlastet werden?

Portrait von Rainer Oberkötter im Anzug vor weißer Wand
"Diese Befragung war die erste ihrer Art in der Bahnbranche und hatte zum Ziel, nicht nur die wichtigsten Belastungsfaktoren der Beschäftigten zu identifizieren, sondern auch Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung der Gesamtsituation zu schaffen."
Rainer Oberkötter Studienleiter der Branchenbefragung

Mitarbeitende liefern Lösungsansätze in Branchenbefragung

Im März 2023 haben wir vom Institut für Wirksamkeitsanalyse (IfW) im Auftrag der Initiative Fokus Bahn genau das getan und eine branchenweite Befragung von Mitarbeitenden aus elf Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) durchgeführt. Diese Befragung war die erste ihrer Art in der Bahnbranche und hatte zum Ziel, nicht nur die wichtigsten Belastungsfaktoren der Beschäftigten zu identifizieren, sondern auch Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung der Gesamtsituation zu schaffen.

Die Resonanz auf die Befragung war enorm: Insgesamt haben 1.557 Mitarbeitende an der Online-Befragung teilgenommen, darunter alle wichtigen Berufsgruppen der Branche: Triebfahrzeugführer/innen, Zugbegleiter/innen, Mitarbeitende des Managements, der Werkstatt, des Servicebereichs, Disponent/innen, Betriebsplaner/innen und IT-Spezialist/innen. Entgegen allen Erwartungen legten die Mitarbeitenden sofort mit der Befragung los, obwohl zur Zeit des Befragungsstartpunkts gestreikt und intern schon über eine Verlegung der Befragung nachgedacht wurde. Schon innerhalb der ersten Stunden beantworteten mehr als 300 Teilnehmer/innen die Fragen, sodass direkt am ersten Befragungstag fast 500 Mitarbeitende an der Befragung teilnahmen.

1.000

Mitarbeitende

hatten bereits nach vier Tagen bei der Befragung mitgemacht.

Endlich Gehör verschaffen

Es wirkte so, als ob die Beschäftigten nur darauf gewartet hätten, endlich auch Ihrer Perspektive Gehör verschaffen zu können und auch wirklich ernst genommen zu werden. Die Resonanz der Mitarbeitenden hielt stetig an und in den ersten vier Tagen hatten bereits über 1.000 Mitarbeitende etwas rückgemeldet. Auch nach einer Erinnerungsmail schossen die Beteiligungszahlen wieder in die Höhe, sodass danach nochmals knapp 300 Teilnehmende innerhalb von wenigen Tagen hinzukamen. Außergewöhnlich war: Gut 90 Prozent der Teilnehmenden beenden den Fragenbogen, wenn sie über die erste Frage hinaus waren.

Die Ergebnisse der Befragung waren eindeutig: Baustellen, Störungen und die überlastete Infrastruktur und das fehlende Personal sind die bedeutendsten Belastungsfaktoren für die Mitarbeitenden. Ebenfalls genannt: Erfahrungen von Aggression gegenüber dem Personal, die in den letzten Jahren zugenommen haben.

Was dem Mitarbeitenden hilft, hilft auch dem Fahrgast

Doch was kann dagegen getan werden? Interessant ist, dass die Mitarbeitenden in der Befragung konkrete Lösungsvorschläge nennen, die sich nicht nur positiv auf ihr eigenes Arbeitsfeld, sondern auch auf den Alltag der Fahrgäste auswirken können: Genannt werden etwa mehr Informationen über Baustellen und Störungen sowie eine bessere Planung und Koordination von Baustellen und des Fahrplans. Auch beim Thema Gewalt hilft den Mitarbeitenden laut der Befragung, was letztlich auch dem Fahrgast hilft: Die Einstellung von zusätzlichem Sicherheitspersonal, die Doppelbesetzung von Zügen, die Ausstattung mit Bodycams und die konsequentere Verfolgung von Straftaten.

Mehrere Menschen warten an einem Bahngleis, an dem ein Zug einfährt.

Fokus Fahrgastinformation

Die Fahrgastinformation bildet einen Schwerpunkt im Projekt Fokus Fahrgast. zuginfo.nrw bündelt verfügbare Betriebsinformationen für Baustellen und Störfälle im SPNV Nordrhein-Westfalens in Echtzeit. Die Weiterentwicklung wird kontinuierlich vorangetrieben.
Alexander Golenia steht an einem Bahnsteig.

Fokus Busnotverkehre

Ob Unfall, spielende Kinder im Gleis oder ein extremes Unwetter: Rund ein Drittel aller Nahverkehrsleistungen auf den NRW-Schienen sind täglich von Störfällen betroffen.

Jetzt ist es an der Zeit, zu handeln

Der Personalmangel ist ebenfalls ein großer Belastungsfaktor für die Mitarbeitenden im SPNV – und laut ihnen auch ein Faktor, warum ein Einstieg in einen Bahnberuf als unattraktiv gilt. Die Verfügbarkeit von Personal zu verbessern und den Krankenstand zu verringern, stellt daher nach Ansicht der Mitarbeitenden die größten Herausforderungen bei der Attraktivitätssteigerung des ÖPNVs – und damit auch für die eigene Entlastung dar.

Was aber ist das Resümee der Befragung: Die Ergebnisse zeigen eine enorme psychische Belastung des Bahnpersonals. Nicht für alle Probleme sind die Akteure der Bahnbranche in Nordrhein-Westfalen selbst verantwortlich. Und nicht alle Probleme können EVU, Aufgabenträger und das Land NRW im Alleingang und zeitnah lösen. Doch die Ergebnisse sollten als Ausgangspunkt für Veränderungsprozesse auf Seiten der Branche genutzt werden. Die Mitarbeitenden haben ihre Belastungen deutlich aufgezeigt – jetzt ist es an der Zeit, zu handeln.

Der Autor

Rainer Oberkötter ist Diplom-Psychologe und spezialisiert auf Evaluation sowie Organisationsentwicklung in Unternehmen. Er ist Geschäftsführer der Wolf&Oberkötter Personal- und Organisationsentwicklung und Leiter des Instituts für Wirksamkeitsanalyse mit Sitz in Essen.

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